Teil 6

 

                                                                                                                                       

Das Ankern und der Ankerpunkt

Die Lage des Ankerpunktes im Gesicht beeinflußt in der Vertikalen die Auszugslänge und damit das Zuggewicht des Bogens und in der Horizontalen die Trefferlage des Pfeiles. Wie bereits in einem vorherigen Kapitel erläutert, verschiebt sich die Trefferlage des Pfeiles nach oben, wenn der Ankerpunkt nach unten wandert und umgekehrt.
Für das instinktive Schießen empfiehlt sich als Ankerpunkt den Mittelfinger in den Mundwinkel zu legen.(Bild 1) Damit erreichen wir, daß der Pfeil hinten möglichst nahe unter dem Auge liegt. Da beim instinktiven Schießen die Bogenhand als vorderer Teil und das Auge als hinterer Teil eines "Visieres" angesehen werden kann, hat das Gehirn bei oben genanntem Ankerpunkt sehr wenig Umrechnungsarbeit zu leisten.




Bei der weit verbreiteten Art des Ankerns mit dem Zeigefinger im Mundwinkel (Bild 2) liegt der Pfeil weiter vom Auge entfernt und erfordert damit mehr Gehirnarbeit.
Beim Ankern mit drei Fingern unter dem Pfeil (Bild 3) ist zwar der Pfeil bei vollem Auszug näher unter dem Auge als bei den beiden anderen und wäre somit noch einfacher für unser Gehirn, aber folgende Nachteile sprechen gegen diese Art des Ankerns.
Beim Greifen der Sehne mit drei Fingern unter dem Pfeil wird die Bogenmitte, wie beim Abklappen der Bogenhand auf das Griffstück, nach unten verschoben. Somit wird der untere Wurfschenkel mehr belastet als der obere. Man kann dies zwar umgehen indem man sich den Bogen von seinem Bogenbauer speziell tillern läßt, aber viele Bogenhersteller, speziell von Massenprodukten, bieten diesen Service nicht. 


Dann hilft nur noch ein Verschieben des Nockpunktes nach oben. Viele Schützen, die mit drei Fingern unter dem Pfeil ankern, klagen jedoch trotz verschobenem Nockpunkt über unsauberen Pfeilflug und / oder laute Abschußgeräusche. Außerdem tendiert man bei einem Pfeil, der so dicht unter dem Auge liegt, entlang dem Pfeil ins Ziel zu schauen. Dies ist vergleichbar mit dem Zielen über einen Gewehrlauf. Die Möglichkeit,daß sich unser Gehirn ein Referenzsystem aufbaut ist bei diesem Ankerstil sehr groß. Ein Referenzsystem ist jedoch für das instinktive Schießen, wie bereits angesprochen, nicht förderlich.
Ich finde das Ankern mit dem Mittelfinger im Mundwinkel ist die beste Methode zum einfachen erlernen des instinktiven Schießens. Bei Benutzung dieses Ankerpunktes liegen der Zugarm und der Bogenarm ziemlich genau auf einer Linie mit dem Pfeil (Bild 4) was natürlich unserem Gehirn  zugute kommt. Diese Aussage beruht auf persönlichen Erfahrungen und den Erfahrungswerten anderer Instinktivschützen. Die Tatsache, daß dieser Ankerpunkt für mich und viele andere Instinktivschützen am besten funktioniert bedeutet allerdings nicht, daß es mit den beiden anderen Ankerpunkten oder mit einem hier nicht erwähnten Ankerpunkt unmöglich wäre instinktiv zu schießen. Wer sich bereits an einen Ankerpunkt gewöhnt hat und damit gut zurecht kommt, sollte diesen auch beibehalten.
Wenn mir Leute beim Schießen zuschauen, werde ich oft gefragt, ob ich denn überhaupt ankere. Denn bei meinem Schießstil löst die Zughand die Sehne, sobald der Mittelfinger den Mundwinkel berührt, oder auch schon etwas früher, nämlich dann wenn das Timing meines  Auszuges nicht ganz stimmt. Das bedeutet, die Zughand ist noch auf dem Weg zum Gesicht, die Bogenhand zeigt aber bereits aufs Ziel und das Gehirn sagt: lösen, lösen, lösen.
Wenn wir uns dieses näher betrachten sehen wir, daß der instinktive Schuß nicht durch den Finger am Ankerpunkt, sondern durch die Bogenhand, die auf das Ziel zeigt, ausgelöst wird.
Ist die Zughand nur unwesentlich vom Ankerpunkt entfernt, hat das keinen oder einen nur sehr geringen Einfluß auf die Trefferlage beim jagdlichen Schießen. Ist die Hand allerdings weiter entfernt kann das eine tiefe Trefferlage speziell bei langen Schußdistanzen zur Folge haben.
Die meisten Lang- oder Recurvebogen legen pro Zoll (2,54 cm) Auszugslänge ca. zwei bis drei Pfund an Zuggewicht zu. Legt man diesen Wert zugrunde, wird ein Pfeil, der ein Zoll zu früh gelöst wird, vermutlich nicht im "Kill" des 3-D Hirsches, sondern im unteren Bereich des Bauches oder sogar im Gras landen.
Als bei meinen Bemühungen instinktiv schießen zu lernen das Problem des zu frühen Lösens auftrat versuchte ich es zu korrigieren, indem ich den "instinktiven Teil" des Gehirns ignorierte, dem "rationalen Teil" folgte und mich darauf konzentrierte den Mittelfinger in den Mundwinkel zu legen.
Dabei war ich so auf meinen Ankerpunkt fixiert, daß die Konzentration auf das zu treffende Ziel nicht mehr ausreichte, mein natürlicher Bewegungsablauf unterbrochen wurde, und ich gar nicht mehr traf. Je mehr ich mich auf mein Problem mit dem Ankerpunkt konzentrierte, desto mehr wurde es zu meinem Problem.
Nachdem ich in meiner Pflichtlektüre "Instinctive Shooting I & II" mein Problem genau beschrieben sah, machte ich mich an die vorgeschlagene Lösung.
G.Fred Asbell rät dazu das Timing der Auszugbewegung etwas zu verändern, sodaß die Zughand sich kurz vor dem gewählten Ankerpunkt befindet, wenn die Bogenhand auf Höhe des Zieles ist.
Um dies zu erreichen kann man folgendes trainieren. Man stellt sich in kurzer Entfernung vor einen adequaten Pfeilfang, konzentriert sich auf einen Zielpunkt, zieht dann den Bogen aus bis zum Ankerpunkt und hält ihn dort für einige Sekunden ohne die Konzentration zu brechen. Dann entspannt man den Bogen durch eine Vorwärtsbewegung der Zughand ohne die Sehne zu lösen. Dies wiederholt man mehrere Male. G. Fred sagt das diene zum programmieren des Gehirns und weil man die Sehne  nicht löst, gibt man dem Gehirn das Gefühl die vollkommene Kontrolle über den gesamten Bewegungsablauf zu haben.
Sollte dies allein nicht zum gewünschten Erfolg führen, kann man den Bewegungsablauf auch bewußt korrigieren indem man die Aufwärtsbewegung der Bogenhand etwas verlangsamt und somit der Zughand mehr Zeit gibt den Ankerpunkt zu erreichen. Man kann den korrekten Bewegungsablauf auch trainieren, indem man sich vor den Pfeilfang stellt, beide Augen schließt, sich auf einen Punkt konzentriert, den man wegen der geschlossen Augen natürlich nicht sieht, auszieht bis der Finger den Ankerpunkt berührt und dann löst. Bei dieser Methode schießt man nur nach Gefühl und trainiert das Muskelgedächtnis. Ich war mehr als verwundert, wie gut meine Pfeile auf dem Holzwolle-Ballen gruppiert waren, obwohl ich nichts sah. Nach diesem Training war das Erreichen des Ankerpunktes mit der Zughand für mich kein Problem mehr, das ich besonders zu beachten hatte. Ich konnte mich wieder voll auf mein Ziel konzentrieren. Durch diese Konzentration auf das Ziel dachte ich nicht mehr an mein Problem, und es verschwand mit der Zeit vollkommen. Man sollte auf jeden Fall versuchen sämtliche derartige Probleme nur mit einer Timing-änderung des Bewegungsablaufes zu korrigieren, danach seinen instinktiven Gefühlen freien Lauf lassen und nicht versuchen mit rationalen Entscheidungen in die instinktiv ablaufenden Bewegungen einzugreifen.
 Wer anfängt instinktiv zu schießen sollte am Anfang darauf bedacht sein sich einen gleichmäßigen Bewegungsablauf anzutrainieren, den er von Schuß zu Schuß duplizieren kann. Dabei ist eine starke Konzentration auf alle Teile des Bewegungsablaufes, also auch auf das korrekte ankern, notwendig. Dies kann sehr gut mit der oben beschriebenen Methode mit geschlossenen Augen trainiert werden. Mit der Zeit wird dieser korrekte Bewegungsablauf in das Muskelgedächtnis übernommen und läuft unterbewußt ab. Man kann sich dann voll auf sein Ziel konzentrieren und seinem instinktiven Gefühl die Steuerung überlassen.
Wer einmal Trickschützen wie Stacy Groscup oder John Schulz bei Ihren Vorführungen beobachtet, wird feststellen, daß sie Aspirin-Tabletten aus der Luft schießen ohne mit der Zughand immer an den gleichen Ankerpunkt zu ziehen. Manchmal haben sie den Bogen sogar nur etwas mehr als halb ausgezogen.
Ihr instinktives Gefühl korrigiert dabei das Zusammenspiel der Bogen- und der Zughand. Es wird vom Gehirn gesteuert, das bedingt durch das jahrzehntelange Training einen möglichst vergleichbaren Schuß aus dem Gedächtnis abrufen kann. Denn wie schon zu Beginn der Serie beschrieben, basiert der instinktive Schuß auf der Fähigkeit des Gehirns diesen Schuß aus dem Gedächtnis abzurufen und dementsprechend unterbewußt die Steuerung zu übernehmen. Voraussetzung dafür ist allerdings, daß ich einen vergleichbaren Schuß schon einmal ausgeführt habe.


Der siebte und letzte Teil der Serie wird das "Zielen" zum Thema haben.

© R.Blacky Schwarz